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    Rolf Blaga

    Lobbyismus im Gesundheitswesen

    Auszüge einer politischen Diskussion

    Am 26. und 27. September 2011 fand eine Tagung in Berlin statt, in der es um Interessenpolitik, Einflussnahme und Korruption im Gesundheitswesen ging. Veranstalter waren Transparancy International Deutschland (TI) und die Evangelische Akademie zu Berlin. Im Mittelpunkt vieler Referate standen die Methoden der Pharmaindustrie. An Beispielen aus den unterschiedlichsten Bereichen wurde gezeigt, wie diese Branche systematisch, zielgerichtet und ausgestattet mit sehr viel Geld und bestens geschultem Personal ihre Interessen verfolgt. Aber auch andere Akteure im Gesundheitswesen betätigen sich als Lobbyisten und versuchen, Öffentlichkeit und Politiker in ihrem Sinne zu beeinflussen: Ärzte, Krankenkassen, Kliniken, Hilfsmittelhersteller und –vertreiber, Physiotherapie-Praxen und nicht zuletzt auch Selbsthilfevereinigungen. Immer wieder wurde kritisiert, dass viele Beteiligten es zugelassen haben, wie selbstverständlich Geld aus der Wirtschaft anzunehmen und deren Denkweise unkritisch zu übernehmen. Als roter Faden zog sich durch die Diskussion die Frage, was getan werden könnte, um die Interessen der Patienten gegen diese starke Lobby zu verteidigen.

    Transparenz bei Pharma-Aktivitäten

    Professsor Edda Müller von Transparency International (TI) fasste die wesentlichen Forderungen ihrer Organisation zusammen. Der Ruf der Pharmaindustrie sei vor allem dadurch beschädigt, dass sie die Preise von Arzneimitteln hochhalte und Schein-Innovationen auf den Markt bringe, die das Gesundheitswesen viel Geld kosten würden. Vertreter der Pharmaindustrie sollten nicht mehr an solchen Gesetzes-Entwürfen mitarbeiten dürfen, von denen sie selbst betroffen sind. Anwendungsbeobachtungen bei niedergelassenen Ärzten müssten verboten werden. Die würden nur dazu dienen, dem Arzt ein Gefälligkeitshonorar zu zahlen und sein Verschreibungs-Verhalten zu beeinflussen. Alle Forschungsvorhaben an Hochschulen, die von der Pharmaindustrie bezahlt werden, müssten in einem Register verzeichnet werden. Es dürfe nicht mehr vorkommen, dass Studien im Nachhinein nicht veröffentlicht werden,  wenn der Pharmafirma die Ergebnisse nicht passten. Aus dem Publikum wurde vorgeschlagen, die Pharmaindustrie in einen gemeinsamen Topf einzahlen zu lassen. Daraus könnten dann die Forschungsgelder von einem unabhängigen Gremium verteilt werden. Anwesende Ärzte bestritten Professsor Müllers Aussage, dass die Pharmafirmen immer seltener Kongresse und andere ärztliche Fortbildung finanzieren würden.

    Unabhängige Kundenberatung

    Stefan Etgeton von der Bertelsmann-Stiftung ("Weiße Liste") stellte die Forderung auf, den Patienten im Gesundheitswesen als „Kunden“ zu akzeptieren. Das wurde im Publikum empört zurückgewiesen. Patienten seien keine „Kunden“, die freiwillig ein Geschäft abschließen. Sie seien kranke Menschen, die notgedrungen medizinischer Hilfe bedürften. Etgeton gelang es nicht aufzuzeigen, dass in vielen Situationen der Patient schon längst „Kunde“ ist und entsprechend beeinflusst wird. Der Patient muss Gesundheitsangebote einschätzen, z.B. wenn er „IgEL“- oder andere Selbstzahler-Leistungen angeboten bekommt. Es fällt den meisten schwer zu entscheiden, in welcher Klinik oder Facharztpraxis man sich behandeln soll. Dafür braucht man einen möglichst unabhängigen Lotsen – ob nun Krankenkasse, Unabhängige Patientenberatung, Verbraucherzentrale, „Weiße Liste“, Selbsthilfe-Angebote oder ähnliches.

    Persönliche Interessen beeinflussen Urteilsvermögen

    Professsor Bruno Müller-Oerlinghausen (früher: Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft) verwies darauf, dass ein Teil der Ärzteschaft durch zu enge Verbindungen zur Gesundheitswirtschaft seine innere und äußere Unabhängigkeit verloren habe. Ärzte riskierten, dass ihr rein professionelles Urteilsvermögen beeinflusst werde durch „sekundäre Interessen“ (Geld, Karriere, Status, Vorteile). Darauf angesprochen würden die meisten das zwar bei Kollegen vermuten, fast nie aber bei sich selbst. Er wies auf die Ärztegruppe MEZIS hin, die generell keinerlei Vorteile von Pharmafirmen in Anspruch nimmt.

    Professsor Müller-Oerlinghausen beschrieb Desinformations-Kampagnen, mit denen die Pharmafirmen erfolgreich ihre Denkweise durchsetzen und Marktanteile für die eigenen Produkte erweitern konnten: Übertreiben von Infektionsgefahren, behaupteter Zusatznutzen neuer Medikamente, Erfinden von Krankheiten, Beeinflussen von Behandlungsleitlinien, Verändern von Grenzwerten, ab wann jemand als behandlungsbedürftig gilt.

    Ähnlich argumentierte Professor David Klemperer vom Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Es dürfe nicht erlaubt sein, dass Ärzte mit Interessenkonflikten die „Leitlinien“ (Behandlungsempfehlungen) für einzelne Krankheiten mitentscheiden. So seien z.B. die Cholesterin-Grenzwerte in US-Leitlinien so verändert worden, dass von vorher 13 Mio. Betroffenen, danach 36 Mio. Menschen hätten medikamentös behandelt werden müssen. Es sei erwiesen, dass gerade diejenigen Ärzte, die sich selbst für nicht beeinflussbar halten, besonders anfällig dafür seien („verzerrte Eigenwahrnehmung“). Das Argument, wer von allen Geld nähme, sei nicht beeinflussbar, sei eine nicht bewiesene Behauptung, so Professor Klemperer.

    Patientenvereinigungen

    In den vergangenen Jahren wurde heftig darüber diskutiert, inwieweit Selbsthilfeorganisationen durch Gelder aus der Gesundheitswirtschaft beeinflusst werden. Dr. Martin Danner (BAG Selbsthilfe) verwies darauf, dass es inzwischen Regeln über die Zusammenarbeit mit solchen Firmen gäbe, um die Unabhängigkeit des jeweiligen Mitgliedsverbandes zu gewährleisten. Alle Zahlungen seien zu veröffentlichen. Verstöße würden in einem „Monitoring-Verfahren“, d.h. einer internen Selbstkontrolle, besprochen. Darüber hinaus aber nannte er keine Probleme oder Beeinflussungs-Mechanismen, die durch die Zusammenarbeit der Patienten-Selbsthilfe mit zum Teil global agierenden Pharmakonzernen entstehen könnten.

    Lobbyismus als latente Gefahr für den Rechtsstaat

    Der schärfste Kritiker eines unregulierten Lobbyismus auf dieser Tagung war Professsor Thomas Leif (netzwerk recherche). Anhand drastischer Beispiele machte er deutlich, dass Politiker, Journalisten, Medien und sogar Internet-Communities von Lobbyisten beherrscht werden. Sie würden selbst vor „Under-Cover“-Methoden nicht zurückschrecken, um die Schwächen ihres Gegenübers auszunutzen. „Gegen die Pharmaindustrie kann in Deutschland niemand regieren“, zitierte er einen SPD-Minister.  In nahezu allen Gremien habe man „seine“ Leute platziert – von ärztlichen Fachgesellschaften und wissenschaftlichen Beiräten der Patientenorganisationen, über den Bundestag, Ministerien und Bundesinstitute bis hin zur Weltgesundheits-Organisation WHO. „Leihbeamte“, bezahlt von der Pharmaindustrie, formulieren in Behörden Gesetzes- und Verordnungsvorschläge – vorgeblich als „fachkundige Helfer“ der Politik. Die Schwächen der Politiker und ihr fehlendes Expertenwissen, seien das „Scheunentor“ der Lobbyisten. Dr. Leif bezeichnete den heutigen Zustand als eine „symbiotische Komplizenschaft“. Jeder, der mit Lobbyisten zusammen arbeite, begebe sich in eine „freiwillige Interessenabhängigkeit“.

    Das sei aber keine Kooperation unter Gleichen: Der Lobbyismus im Gesundheitswesen sei perfektioniert. Pharmafirmen arbeiten mit gewaltigen Finanzmitteln und absolutem „Top-Personal“. Den vermeintlichen Interessenkonflikt zwischen Pharmaindustrie, Ärzten und Kassen gäbe es nicht, so Professsor Leif. Ganz im Gegenteil seien da vielfältige Kooperationsformen und gemeinsame, aggressive Forderungen nach Sonderrechten und immer mehr Geld.

    Der eigentliche Skandal sei, dass das alles so durchgehe. Er halte diese „Überlobbyisierung“ der Politik für eine zunehmende Gefahr für den Rechtsstaat und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Demokratie.

    Kein Interesse an Strafverfolgung

    Mit Vergehen gegen das Strafrecht beschäftigt sich Dina Michels (KKH-Allianz) seit langer Zeit. Sie hätte viele Fälle aufgedeckt, in den Ärzte finanziell von Sanitätshäusern, Physiotherapie-Praxen oder Kliniken Vermittlungsprovisionen bezogen. Es seien unzulässige Beraterverträge oder vorgetäuschte Anwendungsbeobachtungen entdeckt worden. Aber nur in den ganz offensichtlichen Fällen wären Mediziner dann auch verurteilt worden. Ihr sei es immer wieder passiert, dass Staatsanwälte vom Justizministerium „zurückgepfiffen“ worden seien. Andere Ankläger, die sich ausschließlich mit Arztverfahren beschäftigen würden, hätten „nicht Bescheid gewusst“, angeordnete Hausdurchsuchungen abgeblasen und letztendlich das Verfahren eingestellt.

    Trotzdem ermuntere sie weiterhin jeden, Anzeige zu erstatten, der von Abrechnungsbetrug erfahre. Schließlich gehe es um das Geld der Versicherten. Das könne man auch anonym machen, z.B. auf der Seite der KKH-Allianz oder beim Landeskriminalamt des jeweiligen Bundeslandes.

    Lobbyismus ist für Politiker unerlässlich

    Dr. Eva Högl (MdB, SPD) vertrat die Position der „aufgeklärten“ Bundestagsabgeordneten: Natürlich lasse sie sich nicht durch luxuriöse Einladungen beeinflussen. Politiker würden aber Experten benötigen, um sich fachlich beraten zu lassen. Selbstverständlich dürfe man sich nicht zum Sprachrohr von Einzelinteressen machen lassen. Sondern man müsse sich alle Seiten anhören, um dann souverän selbst zu entscheiden. Dr. Högl sprach sich dafür aus, dass sich der Bundestag selbst Regeln geben sollten: Wie sollte mit Bestechung von Abgeordneten umgegangen werden? Nach welcher Karenzzeit dürften Politiker in die Privatwirtschaft wechseln?

    Aus dem Publikum wurde sie gefragt, weshalb sie nicht mit unabhängigen Experten zusammenarbeiten würde. Darauf erwiderte sie, dass es keine wirklich unabhängigen Experten gäbe. Das Publikum dagegen protestierte und war anderer Meinung.

    Mobilisierung über das Internet

    Dr. Günter Metzges (Campact) stellte einige Kampagnen vor, die zeigen sollen, wie einfach es mit heutigen Kommunikationsmitteln ist, seine Interessen zu vertreten. Über das Internet kann man ohne großen Aufwand Menschen mobilisieren: So hätte Campact Aktionen gegen Gen-Food auf Wahlveranstaltungen von nur zehn Bundestagsabgeordneten durchgeführt, die sie als einflussreich ausgesucht hatten. Die mussten sich dann bei jedem ihrer Auftritte dazu äußern. Ohne diese Aktionen hätten sich die Abgeordneten nicht so intensiv mit dem Thema beschäftigt und unreflektiert abgestimmt.

    Patienten sollen über Therapie mitentscheiden ("shared decision making")

    Professsor Ingrid Mühlhauser (Uni Hamburg, MIN Fakultät, Gesundheitswissenschaft) hat sich zum Ziel gesetzt, dass Patienten wissenschaftliche Aussagen zu Therapien verstehen können. Nur so können sie unabhängig darüber mitentscheiden, ob sie sich mit einem Medikament behandeln lassen oder aber ob es ihnen zu riskant ist.

    Patienten müssen glauben, was ihnen der Arzt, eine Pharmabroschüre oder ein Medienbericht über Nutzen und Risiko eines Medikaments sagen. Aber die genannten Zahlen sind meist untauglich, wenn ein Patient sein persönliches Risiko abschätzen will: Sie verschweigen starke Nebenwirkungen oder altersmäßige Unterschiede, sie machen Panik und unterschlagen weit aus gefährlichere Lebensrisiken. Professsor Mühlhauser hat deshalb Kurse für Krebs-Patienten entwickelt, in denen diese lernen, die Aussagen von Medikamenten-Studien einschätzen zu können. Eine Petition an den Bundestag, Behandlungsleitlinien und wissenschaftliche Studien allen Bürgern in verständlicher Sprache zugänglich zu machen, wurde abgelehnt. Dafür gäbe es die Unabhängige Patientenberatung, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und das Qualitätssiegel Afgis.

    Professsor Mühlhauser hielt unter den vielen Patientenportalen eigentlich nur den Gesundheitsfuchs des IQWiG für unabhängig. Das Patienten-Informationsportal der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hielt sie für "problematisch", weil es stark leitlinienorientiert sei und nicht die notwendigen Informationen für persönliche Entscheidungen biete. Die Patientenportale der Krankenkassen seien nicht wissenschaftlich und nicht frei von Marketing-Interessen. Auch die Sieger der Stiftung Warentest müsse man kritisieren: Die Apotheken-Umschau sei eine reine Ratgeberseite, Netdoktor und Vitanet seien wissenschaftlich veraltet.

    Hinter Vitanet stehe die Felix-Burda-Stiftung.

    Fazit

    Auch nach zwei Tagen gab es nicht „den“ Vorschlag, wie Patienten sich in diesem Interessen-Geflecht behaupten können. Der Einfluss der Pharmaindustrie wurde in allen Berichten als mächtig und übermächtig dargestellt – oft genug von den Beteiligten schon als selbstverständlich verinnerlicht.

    In den vergangenen Jahren sind Stück für Stück immer mehr Institutionen entstanden, die Patienten unabhängig informieren und sich für deren Rechte einsetzen. Die gilt es zu stärken und zu einzelnen Kampagnen zusammen zu bringen. Ein erster Fortschritt ist, dass nicht mehr alles im Geheimen stattfindet. Politisch muss noch mehr Transparenz gefordert werden, um zu erkennen wo und wie genau die Gesundheitswirtschaft Einfluss ausübt. Bei Entscheidungen muss darauf bestanden werden, dass interessengeleitete Experten durch unabhängige ersetzt werden.

    Offiziell wurde bedauert, dass der Patientenbeauftragte der Bundesregierung auf dieser Tagung nicht vertreten war. Im Publikum wies man darauf hin, dass Herr Zöller sich zu diesem Problembereich bisher auch noch nicht politisch verhalten habe.

    Einzelne Beiträge der Tagung finden sich auf der Seite der Evangelischen Akademie zu Berlin.

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