Auf einer Fachkonferenz in Hannover wurde deutlich: Internet-Selbsthilfe erreicht mehr Betroffene als traditionelle Selbsthilfegruppen. Doch die ehrenamtliche Arbeit der Webmaster und Moderatoren von Online-Foren ist aufwendig und birgt rechtliche Risiken. Werden Krankenkassen die Internet-Selbsthilfe künftig stärker fördern? Der Bericht beleuchtet Chancen und Herausforderungen.
In Hannover fand am 16. März 2012 eine Fachkonferenz statt, die erhebliche Folgen für die Online-Selbsthilfe haben müsste. Anders als auf vorangegangenen Konferenzen zu diesem Thema wurde erstmals deutlich, was die ehrenamtlichen Macher von Patientenportalen wirklich leisten und dass sie inzwischen einen erheblichen Anteil an der praktischen Selbsthilfe haben. Es scheint, dass auch die Krankenkassen beginnen umzudenken und Internetaktivitäten von Patienten im Sinne des Sozialgesetzbuches V ebenfalls als „Selbsthilfe“ verstehen.
Selbsthilfe im Internet?
Unter dem Titel "Konkurrenz, Koexistenz, Kooperation - Selbsthilfe im Web 2.0" ging es um das Verhältnis von traditionellen Selbsthilfevereinigungen zu der Patientenselbsthilfe im Netz.
Lange Jahre wurden auf ähnlichen Veranstaltungen entsprechende Internet-Portale (wie das Psoriasis-Netz) angefeindet. Ihnen wurde abgesprochen, überhaupt "Selbsthilfe" zu sein. Weil es keinen Kontakt von Angesicht zu Angesicht gibt, würden alle die Eindrücke fehlen, die man nicht über das Schreiben vermitteln kann (Mimik, Gestik, Gefühle).
Vermutlich wussten die meisten Kritiker anfangs überhaupt nicht, wie Internet-Communitys wirklich funktionieren. Je mehr solcher Angebote dann aber im Internet aktiv waren, desto größer wurde die Angst vor deren Konkurrenz.
Fast in allen Bereichen der traditionellen Selbsthilfe gehen seit Jahren die Mitgliederzahlen zurück und fehlt es an aktivem Nachwuchs. Deshalb fürchten die bisher geförderten Patientenvereinigungen um ihre Besitzstände - sie haben Angst, weniger Geld von den Krankenkassen zu bekommen. Ansprüche der Online-Selbsthilfe, ebenfalls in die Selbsthilfeförderung der Krankenkassen miteinbezogen zu werden, wurden noch bis vor kurzem als "viel zu früh" zurückgewiesen. Das wird nach dieser Veranstaltung nicht mehr so ohne weiteres möglich sein.
Kontakte verändern sich
Professor Hans-Joachim Gehrmann von der Hochschule Darmstadt wies darauf hin, dass sich in Deutschland die Kontakte der Menschen immer stärker zu "virtuellen Sozialräumen" hin verlagern. Ratsuchende zum Beispiel würden sich eher anonym im Internet beraten zu lassen als einen Termin bei einer örtlichen Beratungsstelle zu vereinbaren ("Niederschwelligkeit"). 100 Prozent der Jugendlichen seien völlig selbstverständlich regelmäßig im Internet. Wenn diese Generation in einigen Jahren soziale Dienste und Selbsthilfe nachfrage, werde sie das überwiegend im Internet machen.
Hinzu komme, dass sich offensichtlich schon jetzt (sozial-) politische Interessen über das Internet erfolgreich in der Öffentlichkeit vertreten lassen. Professor Gehrmann rief die etablierten Selbsthilfevereinigungen dazu auf, das Internet nicht als Konkurrenz anzusehen, sondern über ihren eigenen Bereich hinaus mit allen dort Aktiven zu kooperieren.
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Dr. Jutta Hundertmark-Mayser stellte die Ergebnisse der NAKOS-Studie "Virtuell ist auch real - Selbsthilfe im Internet" vor. Sie verwies darauf, dass das Internet deutlich mehr Betroffene erreicht als die in Vereinen und Gruppen organisierte Selbsthilfe – nicht nur mit Informationen, sondern vor allem im Erfahrungsaustausch - eben Web 2.0. Die Studie habe gezeigt, dass die Internetkommunikation in Foren und Chats nicht schlechter ist als eine reale Begegnung. Gefühle und Stimmungen könne man sich im Internet ebenso gut mitteilen wie mit anderen Medien, beispielsweise am Telefon. Es sei festgestellt worden, dass sich die Internetnutzer über kurz oder lang selbst treffen wollen und es zu realen Begegnungen komme.
In der Diskussion wurde argumentiert, dass viele traditionellen Selbsthilfevereinigungen zwar Internet-Angebote machen, sich aber vor allem davon erhoffen, neue Mitglieder zu gewinnen. Dagegen steht, dass die meisten Betroffenen im Internet agieren, ohne irgendwo Mitglied werden zu wollen.
In beiden Vorträgen wurden die Risiken und Probleme der Internetauftritte angesprochen: Datensicherheit, Qualität der Informationen, Vertrauenswürdigkeit der Informanten, Beeinflussungsversuche, Transparenz der Betreiber. Es war aber auch klar, dass es bei der traditionellen Selbsthilfe durchaus ähnliche Probleme geben kann, die nur schlechter zu überprüfen sind.
Internet-Ehrenamtliche leisten Erhebliches
Sehr eindrucksvoll war der Vortrag von Enzia Selka (VulvaKarzinom-Selbsthilfegruppe e.V.), die darstellte, dass man sehr viel Zeit aufwenden muss, wenn man ein interaktives Angebot im Web 2.0 anbietet. Diese Selbsthilfegruppe betreibe seit einigen Jahren ein moderiertes Forum, in dem man nicht automatisch freigeschaltet werde. Damit solle ausgeschlossen werden, dass sich so genannte „Trolle“ registrieren, die den Erfahrungsaustausch der Betroffenen erheblich stören würden. Außerdem wolle man vermeiden, dass Werbung für Scharlatanerie etc. gemacht werde. Es sei vor allem sehr wichtig, dass möglichst zeitnah auf Anfragen und dringende Hilferufe von betroffenen Frauen eingegangen werden könne. Man müsse jeden Tag präsent sein, die Kommunikation verfolgen und den zusätzlichen Zeitaufwand für administrative Tätigkeiten berücksichtigen. Darüber hinaus sei auf die Einhaltung rechtlicher Rahmenbedingungen (Datenschutz, Telemedien-Gesetz, Urheberrecht) zu achten.
Daraus ergebe sich ein erheblicher Aufwand an Zeit und Arbeitskraft, der häufig unterschätzt werde. Um ihren NutzerInnen einen möglichst sicherem und störungsfreiem Ablauf im Internet (ohne Werbeeinblendungen) bieten zu können, habe diese Selbsthilfegruppe einen eigenen Server angemietet und sich für ein ausgereiftes Forensystem entschieden. Der Platz sei ausreichend für ein Fachforum und ein separates Forum für Literatur, Hobbys, Haustiere etc.
Selbsthilfe-Foren müssen engmaschig betreut werden
Martin Schumacher von der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V. bestätigte in seinem Vortrag, dass Betreiber von Selbsthilfe-Portalen eine „engmaschige Betreuung“ ihres Internet-Angebots sicher stellen müssen – das ginge nur im Team und können gar nicht von Einzelkämpfern geleistet werden. Man müsse auf Nutzer reagieren, die sich nicht an die Regeln halten („Netiquette“), die hyperaktiv oder uneinsichtig das gesamte Team beschäftigen oder die mobben, drohen und beleidigen. Bei Selbstmordandrohungen müsse die Polizei eingeschaltet werden, weil man sonst eine Hilfeleistung unterlasse (§ 323 c StGB). Betreiber könnten sich darüber hinaus strafbar machen, wenn sie nicht „unverzüglich“ problematische Inhalte entfernen würden – er ging von 24 Stunden Reaktionszeit aus.
Aus dem Publikum wurde darauf hingewiesen, dass man schnell gegen das Heilmittelwerbe-Gesetz verstoßen könne, wenn man ein Präparat zu häufig nennt.
Es wurde erneut deutlich, dass Online-Selbsthilfe einerseits fast ein „Fulltime-Job“ ist, andererseits die Betreiber immer „mit einem Bein im Gefängnis“ stehen würden, so Martin Schumacher.
Sehr viel Zeit und Kraft kostet es, wenn Online-Selbsthilfe den Ansprüchen von Qualitäts-Siegeln genügen will, wie es das Aktionsforum Gesundheitsinformation (afgis) vergibt. Die Qualifizierung ist ebenfalls nicht kostenlos.
Finanzierung der Internet-Selbsthilfe
Es wurde natürlich über Geld gesprochen. Nach anfänglichem Zögern fördern die Krankenkasse inzwischen diverse Internetaktivitäten der traditionellen Selbsthilfe. Demnächst soll mit der BAG Selbsthilfe ein Konzept erarbeitet werden, wie und mit welcher Technik traditionelle Selbsthilfegruppen im Web 2.0 unterstützt werden können. Aber nicht alle etablierten Selbsthilfe-Vereinigungen sind in der BAG Selbsthilfe organisiert – aus welchem Grund auch immer.
Nicht gefördert haben die Krankenkassen in der Vergangenheit Selbsthilfe-Initiativen, die allein im Internet agieren. Wie anfangs berichtet, wurden diese Gruppen nicht der „Selbsthilfe“ zugeordnet. Nach dieser Veranstaltung dürfte es schwerfallen zu behaupten, die inhaltliche Arbeit der ehrenamtlichen Webmaster, Administratoren, Moderatoren und Ansprechpartner sei keine Selbsthilfe. Es wird auch niemand mehr bestreiten können, dass sie sehr viel Freizeit dafür opfern – oft genug eigenes Geld – und alles aus reinem Enthusiasmus.
Umstritten war die Forderung einer Krankenkassen-Vertreterin, alle Selbsthilfevereinigungen sollten (zahlende) Mitglieder werben, um langfristig auf eigenen Beinen stehen zu können. Die Krankenkassen würden nie 100 Prozent der Ausgaben fördern.
Dem gegenüber steht die eindeutige Tendenz, dass heutzutage in vielen gesellschaftlichen Bereichen die Leute nicht bereit sind oder es sich nicht leisten können, in Vereine einzutreten. Wenn nicht die tatsächliche Arbeit, sondern Mitgliedschaften für eine Förderung vorausgesetzt werden, bevorzugt das die Organisationen, die sich eine aufwendige Mitglieder-Werbung oder kommerzielle „Fundraiser“ leisten können.
Förderung auch von anderen
Auf der Veranstaltung wurde von Vertretern der Krankenkassen darauf hingewiesen, dass Selbsthilfevereinigungen sich nicht nur an sie, sondern auch bei gesetzlichen Renten- und Unfallversicherungsträger um Förderung bemühen sollten – und versuchsweise an die privaten Krankenkassen. Da sei noch Geld zu holen. In den großen Patienten-Interessenverbänden gibt es bezahltes Personal. Das hat die Zeit und die Qualifikation, um alle Förderungstöpfe auszuschöpfen. Selten aber die rein ehrenamtlich Arbeitenden. Die meisten von ihnen machen das neben ihrer Berufstätigkeit. Wie beschrieben, opfern sie sehr viel Zeit – da bleibt nicht mehr so viel Kraft, um sich intensiv darum zu kümmern, welche vielfältigen Töpfe der Selbsthilfeförderung es gibt und welche formalen Vorschriften dafür existieren.
Viele Selbsthilfe-Portale lassen auf ihren Seiten Werbung zu. Andere vereinbaren mit kommerziellen Anbietern Zahlungen für ein Sponsoring oder einen Förderverein.
Sollten die rein im Internet agierenden Selbsthilfe-Communitys nicht aus öffentlichen Mitteln gefördert werden, zeichnen sich langfristig zwei Entwicklungen ab:
- Größere Foren für verbreitete Krankheiten mit vielen aktiven Nutzern und einem großen Betreuungsbedarf können sich langfristig nur große Patientenorganisationen leisten. Damit werden die gestärkt, die sich weg vom Mitglieds- hin zum Interessenverband entwickeln.
- Kleinere Patientenvereinigungen können sich ein betreutes Forum nur dann leisten, wenn sie sich das notwendige Geld von der Privatwirtschaft holen – mit allen Interessenkonflikten, die damit verbunden sind.
Das Problem ist nicht einfach zu lösen: Bisher geförderte, traditionelle Selbsthilfevereinigungen werden sich dagegen wehren, wenn ihre Förderung gekürzt oder gestrichen wird.
Das Internet macht es möglich, dass es zu fast jedem Krankheitsbild eigene Selbsthilfeportale geben kann. Die Anzahl der entsprechenden Communitys könnte immens ansteigen und die der realen Gruppen weit überschreiten. Die können nicht alle aus dem Selbsthilfe-Topf gefördert werden – es sei denn, die Politik verändert den Betrag, den die Krankenkasse pro Mitglied an die Selbsthilfe zahlen muss, weil sich die Bedürfnisse der Patienten verändert haben.
Die Online-Selbsthilfe könnte für ihre Interessen sicherlich eine breite Masse von Betroffenen mobilisieren.
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