Ausgerechnet kurz vor der Zulassung des Wirkstoffs Dimethylfumarat im Medikament Tecfidera für die Behandlung der Multiplen Sklerose in Europa gab es für den Hersteller Biogen Idec schlechte Nachrichten: Fumaderm – das Psoriasis-Medikament, in dem der gleiche Wirkstoff steckt – kann zu einer PML führen – zu einer "progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie". Das ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der sich Mark aus dem Groß- und Kleinhirn sowie aus dem Hirnstamm zurückbildet. Folge sind Störungen des Bewegungsapparats und des Gehirns. Letzteres kann sich in Sprachstörungen, Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit, Demenz oder epileptischen Anfällen zeigen.
Ursache ist meist ein Virus, dem das Immunsystem nicht mehr genügend Widerstand entgegensetzen kann, weil es zu geschwächt ist.
Wegen PML-Fällen war seinerzeit das erste Biologikum Raptiva vom Markt genommen worden.
Das arznei-telegramm 5/13 vom 10. Mai 2013 schrieb dazu: “Beim derzeitigen Kenntnisstand raten wir von der Einnahme [von Fumaderm] ab.“ Noch in der vorherigen Ausgabe war sich die Redaktion uneinig, ob sie es für Psoriatiker empfehlen solle.
Aus Sicht des arznei-telegramms gibt es für Fumaderm weder zum Nutzen noch zur Sicherheit verlässliche Daten, aber eine hohe Abbrecherquote. Das Psoriasis-Netz berichtete darüber. Der FUMADERM-Anbieter Biogen Idec wurde kritisiert: „Die Fachinformation spiegelt den Kenntnisstand zu den Risiken des Mittels nicht adäquat wider“. Der Aufsichtsbehörde BfArM wird „Untätigkeit“ vorgeworfen. Auf der anderen Seite wehrt sich Biogen Idec: Das Risiko sei extrem selten und darauf zurückzuführen, dass die Ärzte Fumaderm weiter verschrieben hätten, obgleich die Lymphozyten-Zahl zu stark abgesunken war.
Was war geschehen?
Der erste Fall
Professor Jörg B. Schulz von der Uniklinik für Neurologie in Aachen berichtet im New England Journal of Medicine gemeinsam mit seinem Kollegen Professor Joachim Weis über einen 74-jährigen Patienten. Er hatte drei Jahre lang Fumaderm eingenommen. Zuvor war seine Schuppenflechte mit Kortisonsalben, Acitretin und Methotrexat behandelt worden. Im Juli 2010 entwickelte der Patient Sprachstörungen. Eine Untersuchung des Gehirns im Magnetresonanztomographen zeigte schließlich die PML.
Im Blutbild hatte sich ein Jahr nach Beginn der Fumaderm-Behandlung eine Lymphozytopenie bemerkbar gemacht - ein Mangel an Lymphozyten. Der Hersteller empfiehlt in solch einem Fall deinen Abbruch der Therapie. Dennoch wurde die Therapie mit Fumaderm fortgesetzt, bis zwei Jahre später die PML diagnostiziert wurde. Zu diesem Zeitpunkt nahm der Patient neben Fumaderm nur noch ein Medikament gegen Prostata-Vergößerung.
Als PML diagnotstiziert wurde, wurde die Fumaderm-Behandlung abgebrochen. Fünf Monate später ging es dem Patienten besser - auch wenn noch immer Sprachstörungen vorlagen.
"Die Langzeit-Behandlung mit Fumarsäureestern und der vorherigen Therapie mit anderen Immunsuppressiva kann das Risiko des Patienten für eine PML erhöht haben", erklärt Jörg B. Schulz.
Der zweite Fall
Hier berichten Bob W. van Oosten und Kollegen vom VU University Medical Center in Amsterdam (Niederlande) über den Fall einer 42-jährigen Frau. Sie hatte wegen einer Psoriasis seit 2007 Psorinovo genommen - ein Medikament mit dem Wirkstoff Dimethylfumarat. Dieser Wirkstoff ist auch in Fumaderm enthalten und soll unter dem Markennamen Tecfidera für die Behandlung der Multiplen Sklerose europaweit zugelassen werden. Die Patientin nahm außerdem täglich Vitamin-C-Pulver und Fischölkapseln ein.
Die Frau war im November 2012 wegen einer Lähmung der rechten Körperhälfte zu den Ärzten gekommen, um eine zweite Meinung einzuholen. Der Verdacht einer Multiplen Sklerose stand im Raum. Wieder zeigte die Untersuchung im Magnetresonanztomographen eine PML. Und wieder zeigte sich m Blut eine Lymphopenie.
"Wir glauben, dass die Behandlung mit Psorinovo zur Entwicklung von PML bei unserer Patientin beitrug", schreiben Bob W. van Oosten und seine Kollegen. Die Lymphopenie sei eine bekannte Nebenwirkung von Psorinovo. Die Patientin habe vor dem Beginn der PML keine immunsuppressiven Medikamente verwendet - im Gegensatz zum ersten Fall mit Acitretin und Methotrexat.
Reaktion des Herstellers
Im New England Journal of Medicine reagieren drei Mediziner vom Hersteller Biogen Idec auf die Beiträge der deutschen und niederländischen Wissenschaftler.
Sie weisen darauf hin, dass Psorinovo ein freiverkäufliches, nicht von der Zulassungsbehörde geprüftes Medikament sei und deshalb mit höheren Risiken verbunden wäre. In Fumaderm seien vier Bestandteile, von denen Dimethylfumarat nur einer sei. In Psorinovo dagegen könnten neben Dimethylfumarat auch andere Fumarsäureester enthalten sein. In den beiden Fällen hätten über längere Zeit eine Lymphopenie bestanden - zwei und fünf Jahre vor der PML-Diagnose.
Biogen Idec nennt selbst zwei weitere Fälle von PML – beide mit starken Faktoren, die eine PML begünstigen können. In einem Fall war eine Sarkoidose (gefährliche Knötchen an Organen) mit Methotrexat und Kortison behandelt worden. Die PML wurde einen Monat nach Beginn einer Fumaderm-Therapie diagnostiziert. Der insgesamt vierte Patient schließlich war in der Vorgeschichte mit Efalizumab behandelt worden und hatte Krebs. Efalizumab war abgesetzt und die Fumaderm-Therapie begonnen worden. "Sarkoidose, Krebs und Efalizumab sind als Risikofaktoren für PML bekannt", so der Hersteller.
Eine sinkende Leukozyten-Zahl sei eine häufige Nebenwirkung der Fumaderm-Behandlung. Eine schwere Form davon sei nur bei drei Prozent der Betroffenen aufgetreten. "Es ist wahrscheinlich, dass eine längere und schwerere Lymphopenie noch seltener auftritt", so der Hersteller. In den mehr als 180.000 Patientenjahren seien Berichte über PML selten gewesen. "Bei den beiden Patienten (aus den Berichten 1 und 2) könnte Fumaderm bzw. Psorinovo zur Entwicklung der schweren und lang andauernden Lymphopenie beigetragen haben", so Biogen Idec.
Eine schwere Lymphopenie sei ein Risikofaktor für die Entwicklung einer PML. Eine regelmäßige Kontrolle der Blutwerte könne das Risiko senken.
Im Medikament Tecfidera von Biogen Idec, das in den USA bereits zur Behandlung der MS zugelassen ist, steckt als Wirkstoff nur Dimethylfumarat. In klinischen Studien seien 2600 Patienten mit MS über bis zu vier Jahre mit dem Medikament behandelt und zwei Jahre danach immer wieder beobachtet worden. Dabei sei die mittlere Lymphozytenzahl um etwa 30 Prozent gegenüber dem Ausgangswert gesunken. Bei keinem Patienten gab es Hinweise auf ein erhöhtes Risiko von schweren oder opportunistischen Infektionen – und keine Berichte über PML.
Kommentar
Die Ärzte von Biogen Idec räumen ein, dass Fumaderm in den von ihnen genannten Fällen zu einem schweren und langanhaltenden Rückgang der Lymphozyten (Lymphozytopenie) geführt haben könne. Berichte über PLM seien "selten" gewesen – also muss es aber welche gegeben haben. In den jetzt bekannt gewordenen Fällen aus Deutschland und den Niederlanden stellen die Ärzte einen klaren Zusammenhang zwischen der Lymphozytopenie und der progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie (PML) her.
Das Risiko, unter der Einnahme von Fumaderm eine gefährliche PML zu bekommen, steht nicht im Beipackzettel - auch nicht als "sehr selten", als "Einzelfall" oder als mögliche Folge, wenn eine Lymphozytopenie zu lange toleriert wird.
Das Biologikum Raptiva wurde 2009 vom Markt genommen, nachdem es weltweit drei PML-Fälle mit tödlichem Ausgang gab . Damals wies man darauf hin, dass dieses Virus in den USA weiter verbreitet sei als in Mitteleuropa.
Biogen Idec wehrt ab. Bei „185.500 Patientenjahren an Erfahrung mit Fumaderm nach Zulassung“ sei das ein „sehr seltenes Ereignis“. Beim neuen MS-Medikament Tecfidera sei noch kein einziger Fall aufgetreten. Für die Überwachungsbehörden seien die Fälle „kein Thema“. Aber als Patient sucht man das Risiko, unter der Einnahme von Fumaderm eine gefährliche PML zu bekommen, vergeblich im Beipackzettel - auch nicht als "sehr selten", als "Einzelfall" oder als mögliche Folge, wenn eine Lymphozytopenie vom Arzt zu lange toleriert wird. Weder Ärzte noch Patienten wussten davon. Tecfidera ist in Europa noch nicht auf dem Markt, sondern wurde in kontrollierten Studien getestet. Da wird natürlich nicht weiterbehandelt, wenn die Blutwerte riskant sind. Als Patient erwartet man von den Aufsichtsbehörden, dass sie sich zu Fällen äußern, bei denen nach Zulassung ein schweres Risiko entdeckt wird – unabhängig davon, wie häufig es letztendlich ist.
Aus Patientensicht ist es völlig unverständlich, dass nach eigenen Aussagen die Vertreter von Biogen Idec nicht mit der Redaktion vom arznei-telegramm reden. Ein wissenschaftliches Symposium, auf dem sich die Kontrahenten sachlich darüber streiten, wäre die richtige Reaktion. Die Patienten werden allein gelassen und müssen entscheiden, welchen Experten sie mehr glauben. „Glauben“ ist aber nicht das, was wir von einer evidenzbasierten Medizin erwarten, sondern wissenschaftliche Ergebnisse.
Tipps zum Weiterlesen
- "Fumarsäure: Hirninfektionen in der Psoriasis-Behandlung" - Deutsches Ärzteblatt vom 26. April 2013
- "Multiple Sklerose: Ärzte weisen auf mögliche Gefahren einer Therapie mit Fumarsäure hin" - journalMED vom 30. April 2013
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