Erleuchtung
Fast jede Frau kennt dieses frustrierende Erlebnis: Man ist einigermaßen zufrieden mit sich und der Welt bis man mit einem superschicken Rock oder ähnliches eine Umkleidekabine betritt und nackt und verletzlich im kalten Neonlicht die grausame Wahrheit im Spiegel entdeckt. Jeder „Makel“ wird bis ins kleinste ausgeleuchtet und wenn man sich wie ich meist nur von vorn sieht und kennt (was in meinem Fall auch nicht besser nur gewohnter ist), rennt man schreiend aus dem Kaufhaus ins nächste Fitnessstudio. Die Lösung dafür wäre jedoch weniger schweißtreibend und stressig, wenn man statt dieser teuflischen Beleuchtung etwas Schummerlicht in die Kabine zaubern würde. Ich habe mich oft gewundert, warum das nicht gemacht wird, denn es würde auf jeden Fall den Umsatz steigern.
Wie gut hatten es doch die Frauen vor dem 19. Jahrhundert als es entweder nur Tageslicht oder Kerzenschein gab – ersteres nicht ganz so schlimm und letzteres auf jeden Fall schmeichelhaft für den Teint und auch sonst. Erst im Zuge der Industrialisierung setzte ein Verlangen nach kompletter Erleuchtung auf sämtlichen Gebieten ein. Doch vor allem für die Straßen der rapide wachsenden Großstädte und die großen Produktionshallen war ausreichendes Licht dringend notwendig geworden. Bevor die öffentliche Beleuchtung eingeführt wurde, war es Sache und Pflicht der Hausbesitzer, ihr Haus mit einer Laterne zu erleuchten (und übrigens auch die Straße vor ihrem Haus zu pflastern, was ein ziemlich buntes Bild ergab). Ebenso musste jeder, der nachts unterwegs war, eine Laterne mitführen bzw. einen der zahlreichen Fackelträger mieten. Wer das nicht tat, wurde belangt. Die Fackelträger steckten oft mit der Polizei oder mit zwielichtigen Gestalten der Unterwelt (oder mit beiden) unter einer Decke – sie sahen viel, sie wussten viel und sehr oft löschten sie ihre Fackeln in entscheidenden Momenten und verschwanden …
Erleuchtet wurde durch Kerzen, Fackeln oder Öllampen nicht sehr viel. Eher waren sie ein Erkennungszeichen (da steht ein Haus, da geht jemand etc.) und ließen mehr im Schatten als im Hellen. Die Gasbeleuchtung setzte dem ein Ende und läutete ein neue Ära ein. Von der Stadt, die nun in regelmäßigen, immobilen Abständen und immer weitreichender erhellt wurde, zog sie in das Haus, dessen Unabhängigkeit sie zusammen mit der Wasserversorgung aufhob. Man war jetzt Teil eines öffentlichen Netzwerkes. Nicht jedermann gefiel das, was nicht nur an den häufigen Explosionen und versehentlich Vergasten lag. Das Gas genau wie der Strom kamen von außen und lösten langsam aber sicher das einstige Herdfeuer ab. Dieses war seit Jahrtausenden Symbol des Heims (und auch der Anbetung wie beispielsweise in Tempeln). Man versammelte sich abends um das Feuer oder die Kerze, aß, arbeitete, sang und erzählte sich etwas. Das Zentrum des neuen Lichts lag außerhalb. Die Familie verstreute sich nach und nach und kam erst wieder regelmäßig durch das Radio und später den Fernseher zusammen. (Ich frage mich ehrlich, was uns heute, wo in Europa fast jeder Mensch sein eigenes Radio und seinen eigenen Fernseher/Computer besitzt, noch zusammenhält bzw. zusammentreibt. Welche Notwendigkeit? Einsamkeit und Entfremdung sind mit Sicherheit Ergebnisse der Industrialisierung. Wirklich ein bitterer Preis für eine vermeintliche Freiheit.)
Wer mehr über die Entwicklung des künstlichen Lichts lesen will, dem sei ein weiteres Buch von Wolfgang Schivelbusch angeraten: Lichtblicke: Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. Und wer in Berlin wohnt und sich für das Thema interessiert, sollte ins Märkische Museum gehen. Danach kann man sich freitags noch im Tiergarten an der Funktionsweise der Gaslaternen erfreuen. Ich werde das auf jeden Fall im Oktober machen (wenn es abends eher dunkel wird). Wer sich einklinken will, ist herzlich willkommen. :smile-alt:
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