Bahngeschichte - Letzter Teil
Die zweite Hälfte des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist für mich die faszinierendste Zeit in der Vergangenheit. Man erfand pausenlos neue Dinge, die anfangs oft als Unterhaltung, d.h. zum Spaß vorgeführt wurden, bis man entdeckte, dass vieles davon tatsächlich im Alltag nützlich ist (z.B. Gaslampen oder der Telegraph, der, bis ihn die Bahn neu entdeckte, langsam in der Ecke einstaubte). Vor kurzem war ich in der Babylon-Ausstellung im Pergamonmuseum und kann seitdem wieder einmal bekräftigen, dass in Europa technisch bis zum 18. Jahrhundert nicht viel passierte. Man ruhte sich einfach auf dem aus, was drei- bis fünftausend Jahre vorher entwickelt wurde. Manchmal fiel man auch dahinter zurück (z.B. in Sachen Staat und Gesetz). Was dann im 18./19. Jahrhundert kam, ging alles ziemlich flott und schon jedes Kind wollte Erfinder werden. Die Herrschaften des 19. Jahrhunderts gewöhnten sich sehr schnell an den neuen Comfort (natürlich nur die, die ihn nicht produzieren mussten). Saß man in den ersten Jahren noch wie auf Kohlen in der Bahn, weil man der Technik misstraute und schon die schlimmsten Unfälle vor Augen sah, verdrängte man später die Angst ziemlich erfolgreich und las weltmännisch entspannt seine Zeitung während man durchs Land düste. Interessanterweise hätte sich die Angst jedoch steigern müssen, denn die Unfälle infolge der Industrialisierung nahmen beständig zu. Auch die Bahnunfälle. Die Folgen durch Bahnunfälle stellte die Mediziner vor ein großes Rätsel. Sie erschienen weitaus schlimmer, als bei "normalen" Unfällen und selbst Menschen, die nicht physisch verletzt wurden, zeigten komische Symptome (Apathien, neurotisches Verhalten, Schlafstörungen etc.). Psychische Erkrankungen, Schocks, Traumata kannte man bis dahin nicht. Allem schrieb man eine physische Ursache zu. So ging man auch erstmal davon aus, dass durch den Unfall eine Erschütterung des Rückenmarks stattgefunden hat, wenn sonst nichts zu finden war. Nach und nach entwickelten die Mediziner generell eine Idee vom Unterbewusstsein und den psychischen Schäden, die speziell durch Bahnunfälle ausgelöst wurden. Die Verdrängung der Angst vor einem Unfall, die Schnelligkeit mit der das Bahnunglück passiert und dem Reisenden keine Sekunde psychischer Vorbereitung lässt, die verletzten Menschen, die Schreie, Hilferufe etc., all das löst Traumata bei den Betroffenen aus, die eine völlig neue Qualität darstellen und seitdem vor allem auch auf modernen Kriegsschauplätzen wiederzufinden sind.
Soviel zu den Schattenseiten der Bahnreise. Meine Informationen verdanke ich hauptsächlich Wolfgang Schivelbusch. Sein exzellentes Buch (Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert) kann ich jedem nur weiterempfehlen. Auf dem Cover steht ausdrücklich, dass das Buch nichts für intellektuelle Spinner ist. Ich hab es trotzdem gelesen und bin begeistert. :smile-alt:
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