Die Weihnachtsrache
Das Licht war viel zu hell und der durch eine versteckte Düse geblasene künstliche Lebkuchengeruch stach ihm widerlich süß in die Nase. Promelkow saß in einem unbequemen Hörnerschlitten, dessen hintere Hälfte fehlte. Vorne am Schlitten hatte man zwei Plastikrentiere angebunden. Überall hingen Tannenzweige, kleine goldene Glöckchen, lautlos trompetende Engelchen und unzählige leere, bunte Pakete. Um jedes von diesen war eine große rote Schleife gebunden. Zudem hatte man die ganze Szenerie mit künstlichem Schnee besprüht und mit Lametta behangen.
Der Schlitten stand erhöht auf einem Podest. Links führte eine kleine Treppe hinauf und rechts führte eine kleine Rutsche hinab. An der Treppe wartete eine schlaksige Gestalt darauf das nächste Kind hinauf zu lassen. Diese Gestallt sollte Knecht Ruprecht darstellen, sah aber eher aus wie ein hungriger Robin Hood.
Promelkow schwitze. Der derbe Stoff seiner Verkleidung scheuerte an den Armen und im Genick. Der künstliche Bart fusselte und eine ebenso künstliche buschige Augenbraue schickte sich an ihm auf die Nase zu rutschen. Außerdem musste Promelkow dringend auf die Toilette, eine Not, die durch den aufgeregt auf seinem Schoß umherrutschenden Jungen noch zusätzlich verstärkt wurde.
"Und dann will ich noch..."
Promelkow ließ einen weiteren Schwall von zumeist englischen Begriffen über sich ergehen von denen er noch nie etwas gehört hatte. Ein im falschen Bart verstecktes Mikrofon übertrug die Stimme des Jungen auf mehrere Lautsprecher, damit auch jeder diesen Unsinn hören konnte.
Unsinn war es zumindest in Promelkows Ohren.
Ab und zu sagte er mit tiefer Stimme "hohoho" oder "sososo." Er fragte ob der Junge auch brav gewesen war, und schließlich sagte er knurrig: "Na, dann wollen wir doch einmal sehen." Dann setzte er den widerstrebenden Jungen auf die Rutsche. Unten wurde dieser von einer stolzen Mutter in Empfang genommen.
So ging das nun schon seit Stunden. Anfänglich hatte Promelkow sich noch Mühe gegeben. Er hatte sich Mühe gegeben nett zu den Kindern zu sein und er hatte sich Mühe gegeben nicht daran zu denken wer wohl diesen Bart vor ihm getragen hatte. Dann aber war Promelkow langsam eingedämmert. Bisweilen schien der Zustrom von immer wieder neuen Kindern endlos zu sein. Sie hatten alle dieselben Wünsch, alle dieselben Gesichter und sie rochen alle gleich.
Jetzt kam ein Mädchen das eine komplizierte Puppe wollte, die anscheinend Dinge tun konnte, die Promelkow alles andere als anständig fand. Sehr zur Freude der Anwesenden kannte das Mädchen den Werbeslogan für diese Puppe auswendig und es plärrte ihn fröhlich über die Lautsprecher.
"Hohoho", sagte Promelkow. Er schaute dabei verstohlen auf seine Armbanduhr. Noch zwanzig endlose Minuten, dann würde das Kaufhaus schließen.
In die Warteschlange vor der Treppe kam Bewegung. Eine rotgesichtige Frau drängelte sich vor und zog dabei einen lauthals kreischenden Jungen hinter sich her. Dem Protest der Wartenden schenkte sie keinerlei Aufmerksamkeit. Promelkow erkannte die Frau sofort.
"Knecht Ruprecht! Komm einmal her zu mir", knurrte Promelkow laut ins Mikrofon. Zu dem Mädchen auf seinen Knien sagte er schnell: "Hohoho! Na, dann wollen wir doch einmal sehen." Dabei schob er sie sanft die Rutsche hinunter.
"Was ist denn?" fragte Knecht Ruprecht und beugte sich zu ihm hinunter
Promelkow deckte das Mikrofon mit der Hand ab. "Bring mir die Frau da. Die mit dem roten Gesicht. Nicht das Kind. Die Frau!" flüsterte Promelkow.
"Waaaas", fragte Knecht Ruprecht verblüfft.
"Tu es!"
Knecht Ruprecht zuckte mit der Schulter und ging die Treppe wieder hinunter. "So - Sie sind dran", sagte er zu der Frau.
"Na, hören sie mal..." sagte ein bärtiger Mann in der Warteschlange. "Meine Tochter war doch viel früher da."
"Genau!" sagte jemand anderes, und einige murmelten bestätigend. "Die hat sich doch vorgedrängt."
Die rotgesichtige Frau reckte arrogant ihr Kinn und schob den immer noch kreischenden Jungen zur Treppe.
"Nein nein, der Weihnachtsmann möchte SIE zunächst empfangen."
Der Frau viel die Kinnlade hinunter. "Aber..." Dann wusste sie nicht weiter.
"Nun gehen Sie schon", lachte der Bärtige. "Halten Sie hier nicht den Verkehr auf. Sie hören es doch. Der Weihnachtsmann möchte SIE sprechen.
"Der Weihnachtsmann kann mich..."
"WAS kann Sie der Weihnachtsmann? WAS wollen Sie hier vor den Kindern erzählen", unterbrach sie der Bärtige mit leicht drohendem Unterton.
"Ja, gehen Sie schon. Gehen Sie!" rief eine junge Mutter amüsiert. "Gehen Sie!"
Unsicheren Schrittes erstieg die rotgesichtige Frau die kurze Treppe. Promelkow ergriff schnell ihre Hand und zog sie zu sich heran.
"Was soll das? Was soll ich denn hier?" Erschrocken bemerkte die Frau dass ihre Stimme verstärkt wurde.
"Hohoho. Nun setz Dich doch erst einmal, mein Kind." Promelkow zog sie weiter zu sich heran und sie plumpste auf seinen Schoß. Promelkow verzog schmerzlich sein Gesicht, doch unter dem Bart konnte man das nicht sehen "Bedenke dass Dein Sohn Dich hier sieht. Da wollen wir doch artig sein, nicht wahr?" Promelkow deutete auf den Jungen am Fuß der Treppe, der nun nicht mehr kreischte, sondern der mit großen Augen zu ihnen hinaufschaute. "Bist Du denn auch immer brav gewesen?"
"Ich – äh...", krächzte die Frau mit erstickter Stimme, aber Promelkow sprach weiter.
"Sososo. Du hast doch sicher nie Dein Kind des nachts angeschriene so dass der Mieter, der unter Dir wohnt fast aus dem Bett gefallen wäre?"
"Goch!" rief der kleine Junge am Fuß der Treppe, der an einer großen Zuckerstange lutschte, die Knecht Ruprecht im inzwischen gegeben hatte. Gelächter erklang.
"Und Du schaust auch nie zu tief in Flaschen hinein und lässt auch nie Deinen Fernseher bis morgens in der Frühe bei voller Lautstärke laufen?"
"Ich – äh..."
"Hohoho. Dann bin ich ja zufrieden, und Du wirst sicher auch ein schönes Geschenk vom Christkind bekommen. Du kannst jetzt gehen."
Zittrig stand die Frau auf. Sie wandte sich zur Treppe.
"Nein nein", sagte Promelkow grollend und deutete nach rechts zur Rutsche.
In der kleinen Umkleidekabine, die man ihnen zugewiesen hatte, roch es nach kaltem Rauch.
Knecht Ruprecht war schon gegangen.
Promelkow schaute in den Spiegel über dem Waschbecken.
"Ich habe keine Ahnung, ob es dich wirklich gibt", flüsterte er nachdenklich. "Aber heute hast du mir einen großen Wunsch erfüllt." Dann zog Promelkow den langen weißen Bart von seinem Gesicht.
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