Selbsthilfe und Internet: Angst - ganz, ganz viel Angst
Klassische Selbsthilfegruppen und das Internet - das ist keine unbelastete Freundschaft - wenn es denn überhaupt eine ist. Seit Monaten und Jahren ist zum Beispiel die bundesweite Kontakt- und Informationsstelle Nakos am Thema dran. Zunächst wirkte alles ein wenig verkrampft, freudlos, sehr wissenschaftlich - so aus der Entfernung. Das hat sich gelegt.
Beim Berliner Selbsthilfekongress im Frühjahr 2010 waren Selbsthilfe und Internet ein Thema. Schon "damals" fiel mir auf, dass da mehr Angst als zumindest freundliches Interesse vorherrschte. Das schob ich auf das ganz überwiegend ältere Publikum und die ansonsten anderen Themen. Für den Herbst wurde eine Veranstaltung eigens zum Thema "Selbsthilfe und Internet" angekündigt - ich dachte, da könnte es ja nur besser werden.
Wurde es aber nicht.
Und das lag meiner Meinung nach nicht an den Veranstaltern, sondern schlicht und ergreifend wieder: an der Angst. Und zwar bei einem großen Teil des Publikums.
Worin besteht denn diese Angst?
Angst um Mitglieder: Mancher geht in keine klassische Selbsthilfegruppe mehr, weil er ja alles im Internet bekommt, und das meist kostenlos. Den Vereinen fehlt es dann an Mitgliedsbeiträgen. So geht es derzeit vielen Verbänden landauf landab, völlig unabhängig, welches ihr Thema ist - und es ist schade. Nur: Viele sitzen da wie das Kaninchen vor der Schlange und bibbern - statt das Internet für sich zu nutzen. Wenn das Wissen, die Zeit oder die Kraft für eigene Angebote fehlen - es gibt schon so viele, an denen man sich beteiligen kann.
Angst um die Finanzierung: Klassische Selbsthilfegruppen mit einem Treffen alle x Wochen bangen darum, dass sie ihre Förderung von den Krankenkassen demnächst wohl mit Selbsthilfe-Angeboten teilen müssen, die fast oder ganz ausschließlich im Internet stattfinden. Virtuelle Selbsthilfegruppen brauchen Geld für Software und Serverplatz - bekommen aber keine Förderung, weil die Krankenkassen bislang darauf bestehen, dass sich Selbsthilfegruppen zu treffen haben - und wenn es nur ein- oder zweimal im Jahr ist.
Nach eigener Aussage sind die Krankenkassen an dem Thema dran. Jutta Hundertmark-Mayser von Nakos findet es leider für die Finanzierungs-Diskussion noch "zu früh" - dabei müsste die Debatte meiner Meinung nach parallel zur Diskussion um Kriterien oder die Qualität geführt werden, weil sonst wertvolle Zeit verstreicht und kommerzielle Anbieter inklusive die Pharma-Riesen schneller als die Selbsthilfe sind.
Doch zurück zur Fachtagung. Spätestens in der Arbeitsgruppe 3 am Nachmittag sollte es bei der Veranstaltung darum gehen, wie die virtuelle und die reale Selbsthilfe-Arbeit verbunden werden kann, wie die eine von der anderen Seite profitieren kann. Die Teilnehmer diskutierten in viele Richtungen - nur sehr wenig zum Thema. Schade.
Dabei war das Thema der gesamten Veranstaltung ganz klar "'Neue Medien — Neue Selbsthilfe?". Wenn ich im Thema Internet nicht so fit bin, gehe ich doch nicht zu solch einer Veranstaltung. Wenn ich nicht weiß, was ein Blog oder ein Wiki ist, kann ich schlecht empört sein und das den Veranstaltern ankreiden. Dann besuche ich lieber einen Vortrag in der nächsten Volkshochschule, der das erläutert.
So kann man nur auf eine Neuauflage einer solchen Veranstaltung hoffen, zu der dann vielleicht auch diejenigen kommen, die sich schon ein wenig mit der Materie auskennen und nicht so augenscheinlich Angst haben. Nakos hat ganz frisch eine Broschüre "Internetbasierte Selbsthilfe - Eine Orientierungshilfe" aufgelegt. Vielleicht hat der eine oder andere sie ja bis dahin verinnerlicht
Interessante Fakten aus der Veranstaltung
Holger Preiß aus Würzburg hatte eine Dissertation über die gesundheitsbezogene virtuelle Selbsthilfe geschrieben. Dazu hatte er seinerzeit auch Nutzer des Psoriasis-Netzes befragt. Einige Ergebnisse aus der Dissertation:
Welche Gründe geben Nutzer von virtuellen Selbsthilfegruppen an, wenn sie nicht in "reale" Gruppen gehen?
- Alle Selbsthilfe-Bedürfnisse sind bereits in der virtuellen Selbsthilfe befriedigt.
- Es fehlt die Zeit.
- Es gibt keine passende Gruppe in der Nähe.
- Ihr Wunsch nach Diskretion ist größer.
- Mancher möchte nur ungern Verpflichtungen gegenüber Gruppenmitgliedern eingehen.
- Die Form der Gruppe behagt ihnen nicht.
- Der Treffpunkt ist schlecht erreichbar.
Das Argument, dass Online-Angebote gerade für Nutzer aus ländlichen Gebieten gut wären, ist übrigens eher weiter hinten angesiedelt: Die meisten Nutzer der virtuellen Selbsthilfegruppen kommen nach Preiß' Erfahrung aus Großstädten.
Für die besonders Interessierten: Die Dissertation von Holger Preiß kann man z.B. bei Amazon kaufen.
Miriam Walther von Nakos berichtete über die Erfahrungen, die sie in einem Projekt gesammelt hat:
Vorteile von Online-Selbsthilfe
- orts- und zeit
- ungebunden
- Möglichkeit, nur zu lesen, ohne sich äußern zu müssen
- anonym - jeder kann dosieren, was er von sich wann preisgibt ("Ich gehe nicht in eine Selbsthilfegruppe. Da könnte ich ja Leute treffen, die ich kenne, und die erzählen das dann rum im Dorf.")
- man kann erst einmal "schnuppern" und sich jederzeit zurückziehen
Für wen ist virtuelle Selbsthilfe besonders geeignet?
- für Menschen mit Zeitproblemen
- für Menschen mit eingeschränkter Mobilität
- bei schambesetzten Themen
- in ländlichen Regionen
- bei seltenen Erkrankungen
- für alle, die sich (noch) nicht in eine Selbsthilfegruppe trauen
Welche Grenzen und Probleme haben virtuelle Selbsthilfe-Angebote?
- Für manche ist es nicht ausreichend - vor allem bei emotionalen Aspekten. ("Da nimmt mich niemand in den Arm.")
- Es fällt nicht so schnell auf, wenn sich jemand zurückzieht.
- versteckte Werbung
- Mancher benimmt sich im Netz schneller "daneben" (flaming / faking)
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