Gipfeltag – 4. Der Griff nach dem Strohhalm
Der Griff nach dem Strohhalm
Zur gleichen Zeit unten im ABC, dem Advanced Base Camp, hatte Norman die schlechte Nachricht von Dorje längst erhalten. Dorje hatte angegeben, dass ich zusammen mit einem Chinesen abgestürzt und nicht mehr zu sehen war und er annahm, ich sei tot. Norman sprach sein Bedauern aus und orderte Dorje mit dem Abstieg weiter zu machen.
In so einem Fall, wenn der Tod eines Bergsteigers bestätigt ist, teilt man das in der Regel umgehend der Zentrale des Anbieters mit, die dann die Angehörigen benachrichtigen. Norman sollte aber dazu in den nächsten Stunden nicht kommen, was auch gut war.
Die Stimmung war trotzdem auf dem Nullpunkt. Fast schon wäre diese Saison ohne Verluste am Berg abgegangen. Jetzt waren gleich zwei auf der Liste.
Es klappte besser als ich dachte. Das Eis war nicht zu hart und ich fand mit Pickel und Steigeisen guten Halt.
Dennoch war es tierisch anstrengend. Ich keuchte wie ein Marathonläufer.
Ich schwitzte sogar.
Sehr oft musste ich anhalten und verschnaufen. Dabei ruhte mein ganzes Gewicht quasi auf den vier vorderen Zacken der Steigeisen und den beiden Eispickeln in meiner Hand. Es verschaffte einem aber ein paar Atemzüge ohne Anstrengung.
Weiter! Rechter Eispickel einschlagen, linken Pickel einschlagen, rechter Fuß nach oben, linker Fuß nach oben. Das ganze von vorne. Und ja nicht dran denken, das es hinter mir 3000 Meter abwärts geht.
Nach einiger Zeit war Schluss mit Aufsteigen. Es blieb mir nichts anderes übrig als auf einem schmalen Band zu queren, in der Hoffnung auf eine weitere Rinne zu stoßen, in der es weiter aufwärts ging. Erst einmal musste ich aber verschnaufen und mal einen Blick auf meine Sauerstoffflasche werfen. Ich drehte wieder die Eisschraube ein und sicherte mich. Langsam belastete ich die Schraube mit meinem Gewicht. Meine Beine brannten wie die Hölle und ich hatte das Bedürfnis mich für einen Moment in den Gurt zu setzen. Sie hielt. Das Gefühl die Beine entlasten zu können war traumhaft. Ich nutzte die Gelegenheit für einen Blick auf die Uhr.
Die Zeit drängte. Es würde bald dunkel werden und ich hatte keinen Bock eine Nacht in der Todeszone zu verbringen. Erst recht nicht in dem Hang! Also weiter!
Unten im Basislager schaute die Expeditionsärztin Sabrina durch das Teleskop, während Norman zurückgelehnt in seinem Stuhl saß und an seinem Tee nippte.
„Norman“, sagte sie, „ich sehe da jemanden unterhalb des Grates! Sieht aus, als klettere er eine Eisrinne hinauf.“
„Was?“ Norman ging zum Teleskop und schaute hindurch.
„Das gibt’s doch nicht! Ist das Andy?“ fragte Norman.
„Andy hatte einen roten Overal.“ meinte Sabrina. „Den haben die Chinesen allerdings auch!“
„Ja, aber die Chinesen haben keine schwarzen Rucksäcke, sondern gelbe!“ stellte Norman fest. „Lhopsang und Tenzing sind noch in Lager 4. ich schicke sie ihm entgegen.“
Beim näheren Betrachten des Bandes sank mein Mut.
Besonders gut sah das nicht aus, und ich war nicht unbedingt ein besonders guter Felskletterer, schon gar nicht ohne Seil in so einem Hang. Allein machte ich so was nie. Beim Höhenbergsteigen ist so etwas auch nicht unbedingt notwendig. Das schwierigste an der Besteigung des Mount Everest war die Höhe. Ansonsten war es bis auf wenige Stellen kaum mehr als eine Höhenwanderung. Halt in extremer Höhe. Jetzt ging mir die Düse ohne Ende. Hier an meiner Eisschraube fühlte ich mich sicher. Allerdings ewig hier bleiben konnte ich auch nicht. Links von mir war es auch nicht besonders. Wenn ich noch dieses Band queren wollte, dann musste das jetzt bei Tageslicht geschehen.
Ich entschied mich den Versuch zu wagen. Ich löste mich aus der Sicherung und betrat das Band. Bei näherer Betrachtung sah es doch nicht so schlimm aus. Der Fels war zwar brüchig, aber ich fand genug Tritte und Griffe, die sicher genug waren.
Die Wand machte einen leichten Bogen und gab den Blick auf die nächste Rinne frei.
Und den Blick auf den Grat. Ich befand mich noch gut dreißig Meter unterhalb.
Die Rinne reichte nicht so weit nach oben. Ich begann in ihr hochzuklettern.
Bis etwa zehn Meter unterhalb des Grates führte mich die Rinne. Die Hangneigung betrug hier nur noch etwa 45 Grad. Nach einer kurzen Verschnaufpause begann ich im Fels weiter zu klettern. Und kaum zu glauben, nach fast einer halben Stunde des Abmühens sah ich die Fixseile vor mir. Eine letzte steile Stufe noch. Mit dem Eispickel zog ich es zu mir und hakte den Karabiner ein. Dann zog ich mich nach oben und stand auf der Abstiegsroute.
Ich war vollkommen ausgepumpt und ruhte mich erst einmal aus. Mir war irgendwie komisch. Ich checkte die Sauerstoffflasche und stellte fest dass sie so gut wie leer war. Durch die Anstrengung habe ich mehr Sauerstoff verbraucht als ich dachte.
Ich wechselte die Flasche und atmete tief durch.
© ande71
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