Gipfeltag - 1. Der Aufbruch
Der Aufbruch
„Andy, wake up! We must get ready!“
Dorjes Weckruf war kurz und knapp. Er klopfte dabei auf das untere Fußende des Schlafsacks.
Ausgeschlafen war ich keineswegs. Ich war seit Wochen nicht ausgeschlafen. Und die Atemmaske in meinem Gesicht war nicht unbedingt dazu geeignet einem zu einem ruhigen Schlaf zu verhelfen. Hier im Hochlager 4 auf 8200 m Höhe war das allerdings notwendig um zu überleben.
Es war also soweit.
Es stand mir und den anderen eine achtzehnstündige Tortour bevor, die uns, wenn alles gut ging zum höchsten Punkt der Erde führen würde. Schon jetzt konnten wir auf jeden anderen Gipfel dieser Erde hinabblicken.
Beim Überprüfen der Ausrüstung bemerkte ich meine Nervosität. In die Taschen hatte ich mir einige Energieriegel gesteckt, an die ich gut drankommen konnte. In der Thermosflasche war gezuckerter Tee. Studien haben festgestellt, dass warmer Tee die Stimmung und Motivation von Bergsteigern steigerte. Den Grund dafür wusste man nicht. Aber es funktionierte.
Zu Essen musste ich mich zwingen. Der Appetit und die Verdauung in der großen Höhe sind nicht besonders gut, aber Essen war wichtig, um diese Tag zu bestehen.
Dann war es soweit. Es wurde zum Aufbruch geblasen. Eine neue Sauerstoffflasche wurde angeschlossen und der Regler auf 4 Liter pro Stunde eingestellt. Dies sollte in der ersten Stunde des Aufstiegs unserem Körper dazu verhelfen in die Gänge zu kommen. Später stellte man den Regler dann auf 2 Liter pro Stunde. Jede dieser Flaschen reichte für ungefähr acht Stunden. An einem pilzförmigen Felsen in 8600 m Höhe, dem Mushroom Rock, lag Ersatz. Dort tauschte man gewöhnlich die Flaschen, um mit einer vollen Flasche zum Gipfel weiter zu gehen. Auf dem Rückweg tauschte man seine leeren Flaschen vom Gipfelgang gegen die noch halbvolle Flasche vom Aufstieg und nuckelte diese beim weiteren Abstieg leer.
Über den Kopfhörer im Ohr drängte der Expeditionsleiter, der sich in dem Lager am Nordsattel befand zum Aufbruch. Bei der Gelegenheit bekam ich dann mit, dass wir erst 23 Uhr hatten. Offensichtlich hat er uns früher wecken lassen, damit wir an der Schlüsselstelle, dem Second Step, unter den ersten waren. Hier befanden sich zwei Alu-Leitern, mit denen eine der schwierigsten Stellen der gut dreißig Meter hohen Felsstufe gemeistert werden konnte. Für gewöhnlich drängten sich hier bei Auf- und Abstieg dutzende Bergsteiger der verschiedenen Expeditionen. Wartezeiten waren unausweichlich. Deswegen versuchte man beim Auftsieg als erster zu dieser Stelle zu kommen, denn Warten bedeutet vergeuden von Sauerstoff und vor allem Wärmeverlust.
Beim Schultern des Rucksacks stieg meine Nervosität auf das Maximum. Mir war geradezu schwindlig vor Aufregung. Es muss dasselbe Gefühl sein, das die Männer damals in Flandern hatten, kurz bevor sie aus dem Schützengraben springen mussten, oder die Soldaten auf den Landungsboten vor den Stränden der Normandie. Ich war heilfroh, das mir keine Kugeln um die Kugeln flogen, als ich aus dem Zelt trat.
Naja, es ging heute auch um was!! Der Leistungsdruck war enorm. Zigtausende von Dollars hatte es gekostet hierher zu kommen. Ich würde noch eine zeitlang daran zu zahlen haben für die Erfüllung dieses Traumes. Auch wenn er scheiterte!
Und die Chance hier oben zu sterben war nicht eben gering! Die Fehlertoleranz in dieser Höhe läuft gegen Null. Nicht umsonst nennt man es die „Todeszone“, in der wir uns befanden.
Nach einem Check des Funkempfangs und der Regler der Sauerstoffflaschen gingen wir los.
Nach einiger Zeit legte sich meine innere Unruhe.
Ich hatte dafür gesorgt, dass ich an der Spitze mit unserem Bergführer, dem Schweizer Peter Kueni, ging. Hinter mir war der mir zugeteilte Sherpa Dorje, dahinter kam Francois Bijou, ein französischer Geschäftsmann, mit seinem Sherpa dahinter der Ami Jack Burnett und dessen Sherpa. Unsere Gruppe war auf etwa 50 Meter auseinander gezogen. Von denen hinter Dorje sah ich nur die tanzenden Bewegungen ihrer Kopflampen.
Nach ungefähr zwei Stunden erreichten wir die Exit Cracks, ein schroffes Gelände, das am oberen Ende auf den Nordostgrat führt. An diesem Punkt sollten wir uns bei unserem Expeditionsleiter melden, der unsere Ankunftszeit dort festhielt und danach unseren Sauerstoffverbrauch bestimmte.
So wie es aussah waren wir die ersten, die sich in dieser Nacht auf den Weg machten, denn über uns konnten wir niemanden erkennen. Das war gut für uns, zumindest für den Aufstieg, denn wir mussten nirgends hinter einer langsameren Gruppe warten. Allerdings würde uns das auf dem Rückweg mit Sicherheit blühen.
Nach den Exit Cracks wurde etwas aufs Gaspedal getreten und schon bald erreichten wir die Felshöhle in der „Green Boots“ seine letzte Ruhestätte hatte. Es handelte sich hierbei um einen indischen Bergsteiger, der vor langer Zeit dort erfroren war.
Etwa 150 Bergsteiger sind am Mount Everest gestorben, und ein Großteil von ihnen liegt immer noch dort. Man kommt während des Aufstieges an vielen ihrer Leichen vorbei, denn in der Regel liegen sie dort, wo sie gestorben sind. Bergungsaktionen scheitern an der Höhe. Hier oben ist man ständig in der Gefahr ihnen Gesellschaft zu leisten. Man sollte damit zurechtkommen, dem einen oder anderen dieser Toten beim Aufstieg in das gefrorene, mumifizierte Gesicht zu sehen.
Auch am Rand unseres Hochlagers 4 befand sich eine solche Leiche. Vor Jahren war er auf dem Rückweg vom Gipfel nachts am Lager angelangt, hatte sich in den Schnee gesetzt und war gestorben. Wahrscheinlich an einem Hirnödem. Man hatte es erst bemerkt als am nächsten Morgen Tageslicht auf seinen zusammengesunkenen Körper schien. Für Jahre saß er da inmitten des Hochlagers, bedeckt von einer Zeltplane die irgendwann einmal jemand um ihn geschlungen hatte, damit die zahlende Kundschaft nicht auf seine Leiche sehen musste. Irgendwann haben Sherpas eines Expeditionsanbieters ihn aus Schnee und Eis gehackt und zum Rand des Lagers gebracht, wo er heute noch liegt.
Doch das war jetzt egal. Vorwärts hieß die Parole. Für sechs Uhr morgens war unsere Ankunft am Gipfel geplant.
© ande71
Der Text enthält Teile aus dem Buch „Dark Summit“ von Nick Heil, die von mir bearbeitet wurden.
Bildquelle: www.project-himalaya.com
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