Stadtmauer und Kreidestrich
Mit wachsender Faszination befasse ich mich seit ca. zehn Jahren mit Grenzen – alle Sorten von Grenzen wie zum Beispiel Zäune, Absperrungen, gesellschaftlichen Grenzen wie denen zwischen „Klassen“, „Ethnien“ und „Geschlechtern“, kulturellen Grenzen z.B. zwischen „Massenkultur“ und „gehobenerer“ Kultur, persönlichen Grenzen zwischen dir und mir oder seinem und meinem und so weiter. Ausnahmslos alle Grenzen haben eins gemeinsam – sie wurden von Menschen geschaffen. Halt halt wird jemand rufen und den Zeigefinger heben, aber es gibt natürliche Grenzen wie Flüsse, Meere, Berge. Aber auch diese sind vom Menschen als Grenzen definiert. Braunbär oder Storch, Virus oder Wind wissen nichts von solchen Grenzen bzw. haben ihre eigenen. Grenzen tauchen auf und verschwinden wieder, sie werden gezogen und verschoben, überschritten und verteidigt. Konflikte entstehen meistens an Grenzen und sieht man auch nur das eine, kann man sicher sein, dass das andere nicht weit ist.
Grenzen definieren Räume – draußen/drinnen, Ausland/Inland, privat/öffentlich, gefährlich/ungefährlich usw. Und sie definieren die Menschen, die in diesen Räumen leben – Großstädter/Landei, Ausländer/Einer von „uns“, Fremder/Vertrauter, Krimineller/Anständiger.
Die sichtbarste Grenze der vormodernen Geschichte schlechthin ist die Stadtmauer. Ganz klar, wer und was von „draußen“ kam war suspekt, musste kontrolliert werden und sollte bald wieder gehen. Man war am liebsten unter sich. Ebenso war „draußen“ ein Ort der Gefahren – Schutz war notwendig. Dicke Mauern, Gräben und Wachtürme umzäunten jede Stadt. In der Stadt kannte man sich; ein enges soziales Netz sicherte jeden Bewohner ab, sein Stand definierte ihn und seine Handlungen. Ging man fehl und wurde der Stadt verwiesen, war das mit Sicherheit eine schlimme Strafe, wenn man allerdings nach der Verbannung zurückkam, war alles vergessen und vergeben und man wurde wieder voll integriert.
Jede Stadt hatte auch ihre Bettler, die als solche durch ein Schild oder ein Abzeichen kenntlich gemacht wurden. Bettler von außerhalb wurden schnell vom Bettelvoigt und seinen Knechten vertrieben – die wollte man nicht, die sollten zusehen, wo sie bleiben. So war das auch in Berlin. Die Abzeichen verschwanden irgendwann in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, doch die Armen waren weiterhin ein integraler Bestandteil der Berliner Gesellschaft.
Heutzutage geht man schnellstmöglich an Bettelnden vorbei, wirft vielleicht etwas Kleingeld in den Plastebecher … Oder nein, so einfach ist es doch nicht. Es gibt Unterschiede in der Wahrnehmung und Beurteilung. Wie sieht derjenige aus? Ist er arm genug? Hat er womöglich ein Holzbein, keine Arme mehr, einen halbverhungerten Hund? Singt er oder spielt er ein Instrument? Verkauft er eine Zeitung? Tut er irgendetwas, um sich das Geld zu verdienen?
Das sind kleine Überbleibsel der alten Bettelkultur, denn auch die Armen im 18. und 19. Jahrhundert mussten der Almosen „würdig“ sein. Wer aus Faulheit bettelte, um den war es schlecht bestellt. Anders als heute gab es damals keine institutionalisierte Existenzabsicherung wie Hartz 4, d.h. keine im bürokratischen/gesetzlichen Sinne. Denn für die Unterstützung der Armen waren die Reichen verantwortlich. Sie sorgten materiell und finanziell für die Armen,die ihnen wiederum dadurch die Gelegenheit gaben, ihre Wohltätigkeit, ihre Großzügigkeit und ihren Status zu demonstrieren – „moral economy“ nennt man das heute. Wer Almosen geben konnte, gehörte eindeutig zu den oberen Klassen.
Die Bettelnden hatten verschiedene Strategien, um sich die Almosen zu erwerben. Neben offensichtlichen Zurschaustellungen von Armut (Lumpen), Krankheit/Alter (gebückter Gang, Zittern etc.) und Kinderreichtum (nicht immer, aber auch hin und wieder mit geborgten Kindern ;-)) gab es andere „Nachweise“ der Bedürftigkeit. Gang und gebe waren Armutsatteste, die von Ärzten, Bürgern, Armenwächtern u.a. ausgestellt wurden und die Not der Bettelnden bestätigten:
„Daß die Witwe Schallenberg seit mehreren Jahren an einem starken Vorfall der Mutter leidet, alt, krank und schwächlich wirklich ist, Armuthswegen aus einem königl. wohl. Armen Directorio freie Kur und Medizin erhält, als Unterstützung hoch bedürftig ist, bescheinige ich derselben.“
Manch einer machte einen Broterwerb daraus, dass er schreiben konnte und verfasste für seine „Kunden“ Briefe, in denen sie adelige Personen, den König, die Königin etc. um Unterstützung anflehten. Diese Mittelsmänner oder -frauen wussten natürlich auch, wie man am besten das entsprechende Elend ausdrückte, an wen man sich wenden sollte, was bei wem besonders gut ankam usw.
Besonders gern sprach man die Adeligen im Tiergarten an. Der Tiergarten war im Laufe des 18. Jahrhunderts von einem Jagdrevier zu einer Parkanlage umgewandelt worden, die auch für die Bevölkerung zugänglich war. Hier hielt sich der Adel und die Königsfamilie ebenso auf wie die Berliner Bevölkerung. Der Tiergarten lag außerhalb der Stadtmauer und gehörte auch sonst nicht zur Stadt (es gab Gebiete außerhalb der Stadtmauer, die rechtlich zur Stadt gehörten – städtisches „Weichbild“ genannt). Eine breite Palette von Armen bewegte sich im Tiergarten – von einfach Bettelnden, über Schausteller bis zu Brezelverkäuferinnen. Offensichtlich wollte man die Masse der Bettelnden/Armen einschränken bzw. besser kontrollieren, denn man überlegte sehr angestrengt, wie man sie von dort vertreiben könne (und wer dafür überhaupt verantwortlich sei). Nach ewigem Hin und Her zwischen Polizei, Hofjäger und Armendirektion beurteilte man die Armen dort nach den Kriterien für fremde Bettler und kriminalisierte sie kurzerhand, obwohl es sich bei den Bettelnden um Berliner und Berlinerinnen handelte (Betteln war eigentlich verboten, nur interessierte das sonst niemanden – das Verbot galt vor allem für fremde Bettler). Ob sie bedürftig waren oder nicht wurde nicht mehr überprüft und spielte auch keine Rolle mehr. Sie wurden von der Polizei verhaftet und ins Arbeitshaus bugsiert. Dieselben Berliner Armen wurden innerhalb der Stadtgrenzen jedoch nach wie vor respektvoll behandelt und ihre individuelle Lebensgeschichte wurde in Betracht gezogen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts schob sich immer mehr Bürokratie zwischen die Armen und die Wohltätigen. Für die Armenunterstützung war die Armendirektion zuständig, die sich unermüdlich dafür einsetzte, dass die Wohltätigen ihre Spenden bei ihr ablieferte, damit sie die Kontrolle über die Verteilung erlangte. Das kommunikative und belebte Geben und Nehmen zwischen arm und reich verschwand langsam und Armut wurde zunehmend mit Fremdheit/Andersartigkeit, Verfall, Kriminalität und Gefahr gleichgesetzt. Die einstige Stadtgrenze wandelte sich (mit dem Wachstum der Stadt) in eine gesellschaftliche Grenze innerhalb der Stadt um, die Distanz und Unbehagen schaffte. Unser gesellschaftliches Erbe ;-).
So, genug abgelenkt für heute. Die Kreidestriche müssen warten. Aber der zweite Teil folgt bald. Versprochen!
Woher ich das alles weiß? Na vor allem von Dietlind Hüchtker, die eine hervorragende Dissertation geschrieben hat, die da heißt: „Elende Mütter“ und „Liederliche Weibspersonen“. Geschlechterverhältnisse und Armenpolitik in Berlin (1770-1850). Erschienen ist sie 1999 im Verlag „Westfälisches Dampfboot“.
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