Was passiert mit unseren Gesundheitsdaten? Was bringt das, wenn die innerhalb der EU geteilt und gesammelt werden? Wie sieht’s mit der Sicherheit aus? All das waren Themen, die von zwölf Bürgerinnen und Bürgern, zwei Experten und einem Moderator am 10. Juli 2021 diskutiert wurden – und eine der Bürgerinnen war ich.
Das Ganze ist Teil der Debattenreihe „Konferenz zur Zukunft Europas“, die gerade in der ganzen EU läuft. In den Ländern gibt es viele solcher Bürgerforen zu ganz unterschiedlichen Themen. In Deutschland entschied man sich, die Bürgermeinung zum Thema Gesundheitsdaten einzuholen.
Meine Mit-Redner kamen aus ganz Deutschland. Zwei Schüler waren dabei, Studentinnen, mehrere Menschen aus der Pflege, ein Arzt, ein Sanitäter, ein Informatiker, eine Bauingenieurin… kurz: Es war ein bunter Haufen, und jeder hatte andere Gründe, warum ihn das Thema so sehr interessiert, dass er den Samstag dafür opfern und mit Fremden darüber sprechen würde.
In einem Studio saßen neben dem Moderator zwei Frauen: Medizinethikerin Professor Eva Winkler von der Uniklinik Heidelberg und Birgit Bauer, Expertin für digitale Gesundheit, Social Media und bloggende MS-Patientin. Wir zwölf Bürgerinnen und Bürger waren per Videokonferenz dazugeschaltet.
Nach einer Vorstellungsrunde ging es im Sprint an die Arbeit, und die klang einfach: Wir sollten einen Lückentext ausfüllen. Den hätten wir schon im Vorfeld zugesandt bekommen sollen, damit wir uns schon mal Gedanken machen können – das war aber vergessen worden oder aus irgendeinem anderen Grund nicht geschehen. Schade, denn dann hätte jeder schon mal das Wichtigste aus seiner Sicht zurechtlegen können. Wir diskutierten trotzdem oder deswegen munter drauflos. Einen Zeichnerin hielt auf ihre Weise fest, was so alles zur Sprache kam.
Das war der vorgegebene Lückentext – vielleicht kann ihn ja jemand für ein Seminar gebrauchen
Wir stehen vor der Herausforderung, dass (Problem in einem Satz zusammenfassen).
oder „Für die Zukunft wünsche ich mir, dass…“
Deshalb sollte (Adressat) folgende Maßnahmen ergreifen: (konkrete Maßnahmen)
Andernfalls könnte es passieren, dass (Risiken).
Konkret schlagen wir vor, dass (Lösungen).
Wir glauben, dass dadurch (Vorteile).
Sieht harmlos aus, oder? 😉
Vom Lückentext zum Appell
Gesundheitsdaten und EU – das Thema scheint abstrakt, wurde aber schnell ganz griffig. Wer im EU-Ausland mal Urlaub macht und dort einen Arzt oder ein Medikament braucht, wird den Vorteil schnell erkennen, wenn die Daten mit einem mitreisen: Allergien gegen Wirkstoffe, frühere Erkrankungen oder aktuelle Therapien müssen dann nicht in der Landessprache erklärt werden, und am Ende vergisst man doch irgendwas.
Einen weiteren Vorteil sehe ich darin, dass Risiken von Therapien, also Nebenwirkungen etc., früher erkannt werden, wenn sie von möglichst vielen Menschen zusammengetragen werden.
Nicht nur der Informatiker in der Runde mahnte an, dass das Sammeln von Gesundheitsdaten nur dann Sinn macht, wenn sie alle den gleichen technischen Standard erfüllen, also miteinander kompatibel sind. Mir war wichtig, dass man bei aller Euphorie auch an all jene denkt, die Gesundheitsdaten nicht teilen wollen oder können. Ich teile meine Daten, wenn ich weiß, wofür, mit wem und ob sie in halbwegs sicheren Händen sind. Ich kann aber jeden verstehen, der mehr Bedenken hat.
Die Diskussion war an keiner Stelle langweilig. Jeder hatte die gleichen Rechte und Möglichkeiten, seine Gedanken einzubringen. Natürlich ist immer jemand redefreudiger und jemand stiller, aber alles in allem erschien mir die Debatte ausgewogen.
Am Ende wurde aus dem Lückentext jedenfalls ein ziemlich langer Appell in Richtung Politik in drei Kapiteln. Auf diesen Text haben wir zwölf Bürgerinnen und Bürger uns nach unserer Diskussion geeinigt. Hier ist er:
Kapitel 1: Der Nutzen
Gigantische Chance: Der grenzfreie Austausch von Gesundheitsdaten
Für die Zukunft wünschen wir uns einen schnellen, vereinfachten, wertfreien, vertrauenswürdigen, sicheren, barrierefreien und leicht handhabbaren Austausch von Gesundheitsdaten innerhalb der Europäischen Union.
Deshalb sollten die europäischen Gesundheitsminister und die Gesundheitswirtschaft den rechtlichen Rahmen schaffen.
Andernfalls befürchten wir einen Schaden für Patienten, weil die vollumfänglichen Möglichkeiten einer Datennutzung für ihre Behandlung nicht zur Verfügung steht, außerdem verschärft sich die Ineffizenz des Gesundheitssystems.
Konkret schlagen wir vor einen Standard für die grenzüberschreitende Datenverarbeitung zu schaffen, der die Interoperabilität sicherstellt.
Wir glauben, dass dadurch eine bessere Kommunikation der Akteure im Gesundheitssystem möglich wird, seltene Erkrankungen besser erforscht und therapiert werden können, die ökonomische Effizenz erhöht wird, Risiken von Therapien erkannt werden, die Forschung und die Diagnose beschleunigt wird. Dies trägt auch der Förderung des europäischen Gedankens bei.
Kapitel 2: Der Umgang mit Gesundheitsdaten
Der sichere Umgang von Gesundheitsdaten ist kritisch für den Erfolg des Europäischen Gesundheitsdatenraums
Für die Zukunft wünschen wir uns, dass alle die eigene Kontrolle über ihre eigenen Daten behalten. Wir begreifen Datenschutz nicht als Blockierer. Wir wollen eine kommerzielle Nutzung im Sinne von Werbung und Marketing verhindern, die Forschung mit den Gesundheitsdaten aber ermöglichen. Daten zu bestimmten Gesundheitsdaten sollen an Stichtagen in den öffentlichen Fokus gestellt werden, um in diesen Bereichen weiter zu kommen.
Die EU soll beim Gesundheitsdatenraum auf Open-Source-Software setzen. Es muss klar sein, dass die Daten transparent gespeichert werden, und dass der Speicherort klar benannt ist. Es darf keinen Nachteil für Menschen geben, die ihre Daten nicht verfügbar machen. Es bedarf einer Widerspruchslösung, einzelne Daten müssen vom Bürger "verschattet" werden können.
Andernfalls droht die Akzeptanz für die Datenspeicherung verloren zu gehen. Außerdem sehen wir eine Gefahr durch Hackerangriffe.
Konkret schlagen wir vor, dass die Entwicklung der nötigen Software staatlich begleitet wird, jeder Bürger seine Daten jederzeit selbst verwalten kann.
Wir glauben, dass dadurch das Vertrauen der Bürger in den Europäischen Gesundheitsdatenraum wächst, der Nutze erkennbar wird und jeder Bürger nachvollziehen kann, was er durch seine Datenfreigabe bewirkt hat oder bewirken kann.
Kapitel 3: Die Gesundheitsbildung
Der Erfolg der Europäischen Gesundheitsdatenraums beginnt in der Schule
Für die Zukunft wünschen wir uns, dass Information und Aufklärung zum Gesundheitsdatenraum bereits in der Schule beginnt, aber auch andere Bevölkerungsgruppen kontinuierlich angesprochen werden, um zum Beispiel auch Ältere oder weniger digital-affine Menschen für das Thema zu interessieren.
Wir fordern die Gesundheitsminister der EU auf, ähnlich wie bei der Impfkampagne öffentlichkeitswirksam für das Projekt zu werben. Gesundheitliche Bildung und Datenschutzthemen sollen in die Lehrpläne aufgenommen werden.
Konkret schlagen wir vor, mehr Fürsprecher für das Projekt zu finden und Patientenorganisationen mit einem Budget auszustatten, um das Thema bekannter zu machen. Wir sprechen uns für eine verpflichtende Abfrage aus, ob jemand seine Daten teilen möchte. Probleme und Chancen müssen klar kommuniziert werden.
Das Wissen über den Gesundheitsdatenraum soll schon deutlich vor einer Behandlung oder einem Notfall bekannt sein. Wir befürworten ein Anreizsystem für alle, die sich am europäischen Gesundheitsdatenraum mit ihren Daten beteiligen.
Mit Gesundheitsminister Jens Spahn im Gespräch
Der Appell sollte nicht ungehört verhallen. Vielmehr wurde er Gesundheitsminister Jens Spahn ausführlich erläutert, der nach unserer Mittagspause ins Studio gekommen war.
Zunächst schien er unseren Europa-Enthusiasmus bremsen zu wollen: Er verwies auf Herausforderungen, vor denen wir zunächst einmal in Deutschland stehen, wenn es um Digitalisierung und Gesundheit geht. Vernetzung, elektronische Patientenakte, Sektorengrenzen, Faxgeräte, Interoperabilität… der Stichworte gibt es da viele. Dann begab sich Jens Spahn doch noch auf unser Gleis in Richtung Europa. Aber guckt doch selbst:
Wen interessiert, was ich so zu sagen hatte:
- Bei Minute 10:53 Uhr stelle ich mich vor.
- Bei Minute 43:30 Uhr sage ich etwas darüber, dass niemand einen Nachteil erleiden darf, wenn er seine Daten nicht teilen will.
- Bei 01:14:25 geht’s mir um die finanzielle Förderung von virtuellem Austausch unter Patienten, damit der nicht in Facebook-Gruppen oder bei anderen Datenkraken stattfinden muss.
Wer mich kennt, weiß: Ich gehöre zu den ruhigeren Menschen. Aber Jens Spahn hat es geschafft, dass ich ihm vor Publikum unbedingt widersprechen musste. Und er war selbst schuld, schließlich zitierte er den Titel seines Buches „Datenschutz ist nur was für Gesunde“ – und damit hatte er mich 😉 Diese Aussage nämlich regt mich immer wieder auf. Natürlich legen auch kranke Menschen Wert darauf, dass ihre Gesundheitsdaten geschützt bleiben. Chronisch kranke Menschen sind in erster Linie Bürger und erst in zweiter Linie chronisch krank. Und wie jeder gesunde Bürger kann und muss Kranke für sich entscheiden, wem er seine Daten anvertraut. Datenschutz ist kein Luxus, sondern ein Recht.
Jens Spahn erklärte dann auch gleich, dass seine These bewusst provozieren und die Debatte befördern sollte. Das hat er dann auch bei mir geschafft. Seine weiterentwickelte These heißt nun: „Übertriebener Datenschutz ist was für Gesunde“. So würden zum Beispiel chronisch Kranke durchaus wollen, dass möglichst viele Daten zu ihrem Krankheitsbild gesammelt werden. Damit würden sie sich mehr Erkenntnisse und verbesserte Therapien erhoffen. Welcher Datenschutz „übertrieben“ ist, provoziert dann eine neue Diskussion.
Ein kleines Fazit
Viele fremdeln mit dem Thema EU. Für sie ist alles fernab. Aber es gibt Möglichkeiten, sich zu informieren und mitzureden. Die Konferenzreihe bietet Diskussionsrunden zu einigen anderen Themen. Manche finden vor Ort statt, andere virtuell. Es gibt keine hohen Hürden, daran teilnehmen zu können – ich hab' das ja auch geschafft. Man muss nur davon erfahren. Einen Überblick gibt es auf dieser Internetseite der EU.
Für diese Diskussionsrunde hätte die Vorbereitung etwas besser sein können. Konkretere Fragestellungen und das vorherige Zusenden des Lückentextes wären hilfreich gewesen, damit man seine Gedanken vorab schon mal sammeln kann.
Die Diskussion am Vormittag, unter uns Bürgerinnen und Bürgern, fand ich sehr interessant: So unterschiedliche Sichtweisen auf das gleiche grobe Thema, unaufgeregt und normal vorgetragen, ohne Marketing-Buzzwords, das bekommt man selten auf Konferenzen.
Gesundheitsminister Jens Spahn war in den anderthalb Stunden komplett bei unserem Thema und nicht im Wahlkampf-Modus. Er fragte nach und war selbst beim Sub-Thema Selbsthilfeförderung auf aktuellem Stand. Als Politiker überzeugt er mich wegen seines festen Willens, das Gesundheitssystem voranzubringen. Ein anderes Thema sind die Vorwürfe gegen ihn im Zusammenhang mit der Maskenbeschaffung, den Apotheker-Vergütungen und den unkontrollierbaren Testzentren. Persönlich trifft mich sein Umgang mit Journalisten, die Fragen zum Kauf seiner Villa gestellt hatten.
Überhaupt nicht angesprochen wurde das Risiko, dass Gesundheitsdatenbanken gehackt werden können und welche Folgen das haben könnte. Im Frühjahr diesen Jahres haben Erpresser die Daten des irischen Gesundheitsdienstes verschlüsselt. Sie drohten damit, die Patientendaten einschließlich deren Bankverbindungen zu veröffentlichen. Gefordert wurden 20 Millionen Euro. Schon dieser Aspekt der digitalen Gesundheit wäre Thema für einen weiteren EU-Zukunftsdialog. Ich wäre dabei.
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